Der Fall Richard Jewell (2024)

Immer wieder: der „frustrierte weiße Mann“! Es liegt nahe zu fragen, welche Motivation und welches Erzählinteresse das Team um Drehbuchautor Billy Ray und Regisseur Clint Eastwood verfolgt hat, als es einen Artikel von Marie Brenner aus der Zeitschrift „Vanity Fair“ aufgriff, der die dramatischen Ereignisse rund um eine terroristische Bombenattacke während der Olympischen Spiele 1996 in Atlanta schildert. Diese werden im Film komplett aus der Perspektive des verdächtigen Wachmanns Richard Jewell (sehr überzeugend als historischer Held wider Willen: Paul Walter Hauser) und seines nonkonformistischen Anwalts Watson Bryant (Sam Rockwell) erzählt.

Eine unheilige Allianz

Auf den ersten Blick erscheinen die Ereignisse ausschließlich historisch relevant zu sein, bis der Film eine Traditionslinie spezifisch US-amerikanischer Hasskriminalität aufzeigt, in der „frustrierte weiße Männer“ als prototypische Täter gelten und bei deren Aufklärung die Ermittlungsbehörden und die Medien nicht selten eine unheilige Allianz eingehen.

Zu Beginn ist Richard Jewell, der inklusive einer beeindruckenden Waffensammlung noch bei seiner Mutter lebt (anrührend emotional: Kathy Bates) und mit ihr zusammen brav Kenny-Rogers-Konzerte besucht, nichts weiter als der Botenjunge in einem Großraumbüro. Hier lernt er eher zufällig den fahrigen Juristen Watson kennen, der ihn als Einziger wie ein menschliches Wesen behandelt. Schon hier offenbart Jewell eine prekäre Mischung aus sympathischer Aufmerksamkeit für den Nächsten und übertriebener Neugier und Überwachungsparanoia, die ihm später zum Verhängnis wird.

Zunächst aber trennen sich die Wege der beiden Ungleichen: Bryant macht sich selbstständig, hat aber aufgrund seiner allzu entspannten Art nur wenig Erfolg; Jewell arbeitet sich hingegen langsam, aber stetig nach oben, hin zu seiner eigentlichen Berufung, dem Sicherheitsdienst im weitesten Sinne. „I am law enforcement, too, you know“, „Ich gehöre doch auch zu den Strafverfolgern“, wird er im Verlaufe seiner Geschichte immer wieder und immer tragischer akzentuieren.

Ein verdächtiger Rucksack

Anfangs scheitert er als Campus-Ordnungshüter, weil er unbedeutendes studentisches Missverhalten nicht von gravierenden Übertretungen unterscheiden kann. Der heuchlerische, linksliberale Dekan (mit Schleifenschlips: Charles Green), der sich in seiner Autoritätsposition sichtlich unwohl fühlt, wirft ihn hinaus, denunziert seinen ehemaligen Angestellten später aber eilfertig beim FBI – ein kleines, präzises, böses politisches Statement von Clint Eastwood.

Doch das Glück scheint Richard Jewell hold: Die Vorbereitungen zu den Olympischen Sommerspielen 1996 laufen an, und er ergattert einen Security-Job im olympischen Dorf, trägt wieder Uniform und Abzeichen und nervt die Polizeibeamten mit seinem Übereifer. Bis er bei einem seiner Rundgänge einen ihm verdächtigen Rucksack unter einer Bank entdeckt.

Die Hölle tut sich auf: zunächst für alle Umstehenden, von denen über Hundert durch die explodierende Nagelbombe verletzt und zwei getötet werden, dann für die US-amerikanische Gesellschaft, die kurz nach der Terror-Serie des Unabombers eine Gelegenheit suchte, sich durch friedliche Spiele ihrer selbst wieder zu versichern; und alsbald auch für Richard Jewell.

Mit Biss und Ausdauer

Ihm sind schon die 24 Stunden des Ruhms als Retter nicht geheuer, in denen er als Mann des Tages von Zeitungen und Fernsehen zum nationalen Helden proklamiert wird. Vollends versteht er nicht, mit welcher fatalen Wankelmütigkeit und fundamentalen Standpunktlosigkeit die Medienmaschinerie operiert, als er – verdächtig geworden – selbst ins Kreuzfeuer ganz unterschiedlicher Mächte und Instanzen gerät. Jewell wäre verloren, wenn er sich nicht seines alten Bekannten Watson Bryant entsinnen würde; dieser übernimmt seine juristische Beratung, erwacht aus seiner Lethargie und verteidigt Jewell nach allen Regeln seiner Kunst und gemäß uramerikanischer Rechtsprinzipien; für Eastwood ist Bryant offensichtlich ein echter Held – eher leise, doch wenn nötig mit Biss und Ausdauer.

„Der Fall Richard Jewell“ (der reale wie der hier fiktionalisierte) gewinnt seine Prägnanz durch seinen Ort in der Zeit. Vieles ist virulent und noch zu keinem befriedigenden Abschluss gelangt, etwa die nationale Verunsicherung durch den „Feind im Innern“ (Unabomber). Anderes wirkt als Reaktion darauf hektisch und unausgereift: kriminalistisches „Profiling“, Computer-Journalismus, die Strategien der Ermittlungsbehörden, die unter Erfolgsdruck stehen.

Die Rolle der Medien

Von heutigen Standards und Methoden aus erscheint es geradezu unfassbar, wie dilettantisch hier vorgegangen wird. So liefert der Schauspieler Jon Hamm als FBI-Agent Tom Shaw ein überzeugendes Porträt eines schwachen Charakters, der unter Stress und von allen Seiten genötigt zu übereilten Schlüssen gelangt; seine professionelle Kompromittierbarkeit ist für den Film allerdings (allzu) schnell ausgemachte Sache, wenn er – buchstäblich – mit den Medien ins Bett steigt. An dieser Stelle kommt mit der skrupellosen Reporterin Kathy Scruggs vom „Atlanta Journal“ (sehr lebendig: Olivia Wilde) eine Figur ins Spiel, die in ihrer hyänenhaften Unbarmherzigkeit die Karikatur streift. Scruggs ist es vor allen, die, wie der Film nahelegt, aus niederen Beweggründen einen epischen „trial by media“ gegen den amerikanischen Jedermann Richard Jewell entfacht und, anders als der FBI-Mann Shaw, zu keiner Zeit ein Unrechtsbewusstsein oder ein Bedauern zu erkennen gibt.

Ein Clou des Films besteht darin, dass er auf zwei Ebenen gelesen werden kann. Wer sich an den historischen Fall und die Rolle von Richard Jewell erinnert, kann sich auf die teilweise sehr dezidierte Gesellschafts- und Medienkritik von Regisseur Clint Eastwood einlassen, der die Journaille durch den Mund von Watson Bryant als „Parasiten“ beschimpft; anderen lässt das Werk in Gestalt eines Whodunit die Spannung der Entscheidung über Jewells Schuld oder Unschuld spüren, denn erst ganz zum Schluss enthüllt sich, ob Jewell auch Täter war. Ein Opfer ist er in jedem Falle – und, so deutet Eastwood es in aufrecht-konservativer Wendung an, als alternder weißer Mann auch ein Verlierer in künftigen historischen Prozessen.

Der Fall Richard Jewell (2024)

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